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Gelesen: Urs Mattmann, Coming In. Spiritualität für Schwule und Lesben

Religion, gerade in christlichen Ausprägungen, ist für viele Schwule und Lesben ein rotes Tuch. Vielen erscheint es als die einzige vernünftige Wahl, mit dem Coming Out alle Religiosität über Bord zu werfen und sich fortan einem diesseitig-hedonistischen Leben ohne spirituelle Dimension zu verschreiben. Abgesehen davon, daß das, wie Christian de la Huerta (sein Buch wurde hier bereits rezensiert) es formuliert, bedeutet, das Kind mit dem Taufwasser auszuschütten, übersieht man in dieser Haltung leicht, daß viele christliche Geistliche mittlerweile keine theologische Rechtfertigung für Homophobie mehr sehen. Dies ist die Voraussetzung, auf der Urs Mattmann, selbst schwuler Geistlicher und Therapeut, seine „Spiritualität für Schwule und Lesben“ aufbaut. Um die theologische Rechtfertigung geht es in seinem Buch nicht. Für Mattmann ist Homosexualität ein Potential, mit dem „besondere Berufungen, Qualitäten und Aufgaben für homosexuelle Menschen in ihrer Entfaltung und am Dienst an der Welt impliziert sind“. Ihm geht es um eine gelebte Spiritualität:

In den Gottesdiensten der Lesbischen und Schwulen Basiskirche in Basel (LSBK), die ich seit Jahren mitgestalte und in den Seminaren und Retraitenwochen meines „Projektes“ C-Queer – Schwule und Lesben in christlicher Spiritualität kommt mir von lesbischen Frauen und schwulen Männern eine Sehnsucht entgegen. Eine Sehnsucht von Menschen, die ihre Sexualität bejahen, eine relevante Form von Glauben suchen und einen spirituellen Weg gehen wollen. (S. 15)

In zwölf Kapiteln entfaltet sich ein Themenspektrum von Homosexualität als Potenzial über „Coming Out als Sakrament“ und den Umgang mit spezifisch schwullesbischen Verletzungen (vor allem durch Homophobie), gelebte Sexualität bis hin zu „Coming In“ (meditative oder mystische Selbstbegegnung, als Gelegenheit, dem „Höheren Selbst“ Raum zu geben und dadurch Rollenzwänge und destruktive Lebensmuster loszulassen), zum „Christusweg für Schwule und Lesben“ und zu Formen spiritueller Gemeinschaften (auch dieses Kapitel ist sehr christentums-spezifisch und so vielleicht noch für Anhänger_innen anderer etablierter Religionen brauchbar – wer seine Spiritualität außerhalb etablierter Strukturen lebt, wird selbst herausfinden müssen, welche Optionen es in puncto Gemeinschaft gibt). Eine Adressen- und eine kommentierte Literaturliste runden das Buch ab. Es ist überdies als Arbeitsbuch angelegt, jedes Kapitel endet mit Fragen zur Reflexion, Übungen und Gebeten.

Mattmann schöpft in diesem sehr persönlichen Buch immer wieder aus seiner eigenen Erfahrung. Daß er auch vor dem Hintergrund seiner eigenen evangelikalen Kindheit sich mit der Problematik fundamentalistischer Gruppen auseinandergesetzt hat, läßt den Eindruck entstehen, daß er zumindest in den protestantischen Denominationen die Problematiken kennt. (Katholische Zustände werden leider kaum diskutiert.) Es scheint hier und da auch durch, daß die Schweizer Zustände, von denen Mattmann berichtet, sich von denen des deutschen Protestantismus merklich unterscheiden.

Zur Kritik Es geht in „Coming In“ ausschließlich um sexuelle Orientierung. Die Differenzierung zwischen lesbischen und schwulen Erfahrungen wird kaum berücksichtigt, Fragen nach Geschlechtsidentität bzw. gender geraten ebenfalls kaum ins Blickfeld. „Queer“ wird als Synonym für „lesbisch und schwul“ verwendet, Bisexualität und trans* erfahren keine Würdigung. Beim Thema Beziehungen wird die christliche Werteperspektive überdeutlich; die monogame Dauerbeziehung scheint ihm neben einem aus Berufung gelebten Zölibat leider die einzig heilige und auf Dauer gesunde Option zu sein. Es stellt sich auch die Frage, ob der Ansatz „Homosexualität als Potenzial“ nicht problematisch essentialistisch ist, d.h. Schwule und Lesben auf eine Wesenhaftigkeit festlegt, die so vielleicht gar nicht zutreffend ist. (Siehe dazu meine Kritik am Gedanken spezifischer sozialer und spiritueller Rollen für Lesben und Schwule.) Mir stellt sich an diesem Punkt die Frage, wie problematisch oder unproblematisch der Gedanke einer fluiden Sexualität & Geschlechtsidentität mit unscharfen Grenzen für Mattmann wäre.

Für mich als heidnische Leserin war die eindeutig christliche Perspektive über weite Strecken recht schwer verdaulich, obwohl das Buch sich mit einiger „Übersetzungsarbeit“ sicher auch jenseits des Christentums als Arbeitsbuch gebrauchen läßt. Interessant scheint mir jedoch der Gedanke, Coming Out als Sakrament zu feiern, den ich für mich übersetze: Coming Out spirituell begleiten und rituell, als Übergang, zu feiern.

Fazit „Coming In“ hat das Verdienst, im deutschsprachigen Raum ein Pionierwerk zu sein. Trotz der auf das Christentum eingeschränkten Perspektive ist es ein Arbeitsbuch, das gerade schwulen und lesbschen Einsteiger_innen auf dem Gebiet der Spiritualität hilfreich sein kann – wenn man denn bereit ist, als Nicht-Christ_in eine gewisse „Übersetzungsarbeit“ zu leisten. Bi- und transsexuelle Leser_innen könnten sich von der auf Schwule und Lesben fokussierten Perspektive und von der essentialistischen Sichtweise eher nicht angesprochen fühlen.

Bibliographische Angaben Urs Mattmann: Coming In. Spiritualität für Schwule und Lesben, Kösel 2002

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