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Senf zur Leitkulturdebatte

Darf ich hier, auf einem dezidierten Sachtexteblog, auch mal ranten? Natürlich darf ich. Habe ich ja auch schon getan. Und darum hier eine Äußerung, die schon eine Weile gegoren hat, über ein Thema, dessen Widerkäuen in den Medien mich ankotzt.

Nämlich: Die unsägliche Debatte über „den Islam“, die „Leitkultur“, die Rede vom christlichen Abendland. Mir will scheinen, ein großer Teil der Akteure dieser Debatte leidet unter akuter Muslim Panic. Das gebrauche ich jetzt mal analog zum Phänomen Gay Panic. Seit 9/11 verdrängt die Angst vor Fundamentalismus jede vernünftige Debatte über Religion. Kultur wird munter mit Religion in einen Topf geworfen und in unsäglicher Weise pauschalisiert. „Der (fortschrittliche) Westen“ wird gegen „den (archaischen) Orient“ in Stellung gebracht und die Rhetorik Frau Merkels bringt deutlich zum Ausdruck: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es gibt inzwischen mehr als genug gute Stellungnahmen dazu. Angefangen von einer bissigen Notiz von Timemaster Tim (Eldaring) über einen lesenswerten Aufsatz auf den Nachdenkseiten bis zu einem Artikel von Jürgen Habermas in der New York Times – um nur einmal drei herauszugreifen.

Ich fühle mich zwischen den Fronten. Ich lege Wert auf Menschenrechte (alle davon!), weil ich sie brauche. Ich bin in einiger Hinsicht sehr privilegiert (ich bin weiße Europäerin, ich habe eine gute Bildung, ich bin angestellte Erwerbstätige, die von ihrer Arbeit leben kann, ich bin nicht behindert, …), in anderer Hinsicht spüre ich die Marginalisierung (namentlich: ich bin queer, ich bin Frau und ich fühle mich einigen Subkulturen nahestehend, die im kulturellen Mainstream auf Vorbehalte und sogar Ängste stoßen, ich halte für mich z.B. auch Entwürfe von Liebesbeziehungen für lebbar, die der Mainstream entrüstet von sich weist, ich bin ein Nerd). Meine Freiheit ist eine, die allzu oft gegen als christlich deklarierte Positionen erkämpft wurde und noch wird; darum kann ich mich nicht mit „dem Christentum“ verbrüdern. (Mit realen, emanzipativ handelnden christlichen Individuen unter Umständen schon: aber auf einer Ebene der Allianz, nicht der Identifikation.) Und schon gar nicht gegen eine pauschalisierte und aufgebauschte islamische Bedrohnung.

Meine kulturellen Bezugspunkte sind vielfältig. Die Geisteshaltungen des bushido gehören genauso dazu wie die französische Aufklärung; was ich vom Denken amerikanischer Ureinwohner über das Verhältnis von Mensch und Umwelt weiß, hat mich genauso tief inspiriert wie das, was ich aus verschiedensten Quellen über Buddhismus gelernt habe (da waren Interpretationen des Herz-Sutras genauso dabei wie Zen-Denken). Die Pragmatik des Havamal gehört genauso dazu wie Diskursanalyse, Semiotik und Gender Studies. Das Christentum dagegen habe ich zwar kennengelernt (aus einer recht formalen Perspektive – als Musikwissenschaftlerin kam ich nicht umhin), doch geprägt hat mich vor allem die Erfahrung, daß es nicht meine Religion ist.

Ich hätte meine Kultur gern ohne Leit-, aber dafür anständig finanziert. Und für das tägliche Zusammenleben haben wir eine Rechtsordung, Menschenrechte und das Grundgesetz. Warum sollen die eigentlich unzureichend sein?

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