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Orrr muß das sein? Zur Kritik an Daniela Scherler

Mir platzt hier mal der Kragen.

Ich identifiziere mich ja als „science-positive“ Person. Ich bin zwar keine Naturwissenschaftlerin, aber in den letzten paar Jahren an technischen und wissenschaftlichen Themen sehr interessiert. Das beißt sich für mich überhaupt nicht damit, gleichzeitig Polytheistin zu sein, deren spirituelles Paradigma animistische und rekonstruktionistische Elemente enthält. Es steht weitestgehend konfliktfrei neben der Tatsache, daß ich gelegentlich schamanistisch praktiziere und Orakel wie das Tarot verwende. (Zum Thema „Wissenschaft und Heidentum“ schreibe ich irgendwann nochmal was Ausführlicheres.)

Wenn es darum geht, Kreationismus aus dem Biologieunterricht rauszuhalten, Religion als Sache anzusehen, die vom Staat getrennt gehört und Menschenrechte zu verteidigen, verbünde ich mich, ohne mit der Wimper zu zucken, mit den glühendsten Skeptikern. Für die Aspekte der Welt, die wir sehen, anfassen und vermessen können, bieten die Wissenschaften gute Erklärungsmodelle. Ich habe nichts übrig für Verschwörungstheorien.

Nun wird das, was ich (mangels besserer Begriffe nenne ich das so) spirituell so mache, oft als „esoterisch“ klassifiziert. Wenn ich Bücher zu meinen spirituellen Themen kaufen will, dann mache ich das entweder per Versand oder ich gehe in einen esoterischen Buchladen, wo ich sehr viel finde, über das ich den Kopf schüttele. Und wenn’s um alternative Heilverfahren geht, wird es ziemlich unbequem.
Und jedesmal, wenn mal wieder über eine Person, die etwas vertritt, was im weitesten Sinne als esoterisch klassifiziert wird, in irgendeinem Zusammenhang, der mit Esoterik gar nix zu tun hat, mit dem Argument „das ist aber ein_e Esoteriker_in!!! LOL wie lächerlich!!!“ hergezogen wird, fühle ich mich getroffen.

Was mir Twitter heute hereinspülte, war mal wieder so ein exemplarischer Fall. Es geht um diesen Artikel über Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner Piraten, die Heilpraktikerin ist und u.a. Lebenshilfe anbietet und sich dabei offenbar auf ein paar ziemlich problematische Sachen stützt.

Ja, auch ich finde, daß man in Frage stellen kann, ob eine Person, die als Heilpraktikerin gesundheitlich problematische Sachen wie z.B. radikales Fasten vertritt, als Politikerin geeignet ist. Allerdings ist das Argument „das ist esoterischer Quatsch“ in meinen Augen das falsche.

Wenn jemand sich zu einem Weltbild bekennt, das sich nicht mit „dem wissenschaftlichen Weltbild ™“ deckt, und damit evtl. auch professionell befaßt ist, heißt das in meinen Augen nicht, daß diese Person keine anständige politische Arbeit leisten kann. Differenzierung ist angezeigt. „Esoterik!! Iiiih!!!!“ ist kein Argument, wenn es danach ginge, müßte man auf Katholiken genauso mit dem Finger zeigen (mit einem materialistischen Auge betrachtet, ist die Kommunion schließlich genauso „absurd“ wie eine Visionssuche). Dann wäre ein westlich-naturwissenschaftlich-materialistisches Weltbild das einzige akzeptable.

Viel angebrachter wäre, zu sagen, warum z.B. die oben angeführte Person problematisch ist: Weil sie ein hochproblematisches Verständnis von Krankheit und Gesundheit vertritt, weil sie Gedankengut referiert, das man so auch von Vertreten brauner Ideologie kennt und weil sie gesundheitsgefährdende Praktiken vertritt. Genauso macht’s korrupt.biz/. Also: es geht.
Es geht, Kritik an Praktiken und Ideologien vom Lebenshilfemarkt zu üben, ohne gleich alles in einen Topf zu schmeißen und dreimal kräftig umzurühren. Kann unter Umständen ein wenig unbequem sein, Recherche und inhaltliche Auseinandersetzung erfordern. In Bausch und Bogen ablehnen und klotzmaterialistisch rummackern kann jede_r, das ist keine Leistung.

4 Comments

  1. Marc 15. Dezember 2011

    Weil Du mich ja (ich habe den von Dir verlinkten und kritisierten Text geschrieben) ja quasi direkt ansprichst, erlaube ich mir hier eine ganz kurze Stellungnahme.

    Ich gebe Dir durchaus Recht: nur weil man ansatzweise irgendwas findet, was nicht ins eigene (möglicherweise begrenzte) wissenschaftliche Weltbild passt und dann empört „Igitt! Esoterik!“ zu rufen, ist nicht wirklich eine Leistung. Würdest Du mich ein wenig kennen, so wüßtest Du, daß ich nicht zu vorschnellen, pauschalen Beißreflexen neige.

    Im aktuellen Fall von Daniela Scherler blieb mir aber kaum anderes übrig, als deren Weltanschauung (die sie in ihrem Buch auf mehr als 200 Seiten ausbreitet) unter dem Etikett „Esoterik“ zu subsumieren. (Ich gestehe Dir gerne zu, daß Du aus dem gesamten Spektrum an üblicherweise esoterisch genannten Praktiken gezielt auswählst und das für dich sinnvoll ist, darum geht es mir aber nicht).

    In meinem Artikel führe ich dann ja aber durchaus konkret auf, woran ich mich reibe. An absolut lächerlichen medizinischen Aussagen etwa (Köstlichkeiten wie die These, daß man von der jährlichen Grippe verschont bleibe, wenn der eigene Körper nicht in derselben „Resonanz“ wie der Virus schwinge, habe ich ja gar nicht ausgeführt). An verschwörungstheoretischen Statements oder eben an Empfehlungen und Buchtipps von Autoren, die der sog. Germanischen Neuen Medizin zuzurechnen sind.

    Kurz: ich kann ja auch nichts dafür, daß im Buch von Frau Scherler all das drinsteht. Welche Positionen ich exemplarisch kritisiere, habe ich aber eben doch ausgeführt.

  2. Korrupt^ 15. Dezember 2011

    Hm, als „posiives Gegenbeispiel“ vermag ich die Klage über Scheloske nicht wirklich nachzuvollziehen. Ich denke schon, dass er (ausführlicher als ich) die inhaltlichen Gruseligkeiten der Scherlerthesen aufrollt und diese eben der Punkt sind, an dem man Verantwortungs- und Denkfähigkeit in Zweifel ziehen muss.

    Ich würde mit ihm dahingehend konform gehen, dass es für praktisch alle Esoterik (die Zuordnung/Begrifflichkeit einigermassen sauber vorgenommen) gilt, dass man schnell in einem Bereich ist, wo das logische Denken in einem grundlegenden Sinn abgeschaltet werden muss, um nicht in Tränen, wahlweise Gelächter auszubrechen. Es mag „Anwendungsfelder“ geben, wo der direkt drohende Schaden insbesondere für die üblichen Risikogruppen Kinder etc. geringer ist als bei anderen (an einer Kommunion stirbt man eher selten, an einer Behandlung nach Hamer öfter und am von Scherler angeführten vierzigtägigen Fasten sicher), aber an der grundsätzlichen Mangelhafigkeit der „Denk“-Ansätze selber gibts wenig Unterschiede.

    Analog: Es geht um Gravitation, ob mir nun die Maus aus der Hand oder ein Klavier auf den Kopf fällt, ihre Existenz zu leugnen, ist bei der Maus weniger folgenreich als beim Klavier, aber in beiden Fällen gleichermassen beschränkt.

  3. thursa 16. Dezember 2011

    Danke Euch für die Kommentare. Ich hätte darauf eine Menge zu sagen und klarzustellen.

    Ich habe wohl ein schlechtes Timing, denn ich werde in den nächsten Tagen nicht dazu kommen. Nur soviel jetzt: in keiner Weise nehme ich gesundheitsschädliche „Heilungs“praktiken in Schutz. Was mich allerdings stört, ist, daß „Esoteriker_in!“ immer noch taugt, um Menschen zu diskreditieren.

  4. thursa 22. Dezember 2011

    So, nun die versprochenen Klarstellungen.

    @Marc, was mir an Deinem Artikel sehr, sehr sauer aufgestoßen ist und mich zu diesem Posting veranlaßt hat, ist der Gestus des Lächerlichmachens. Ich kann mir vorstellen, daß auch ich Scherlers Buch wahrscheinlich schnell mit „orr, was ist denn das für ein…“ in die Ecke werfen würde. Insofern: Respekt, daß Du Dich durchgebissen hast. Als politisches Argument taugt das indessen nicht, und ich fühle mich (auch wenn ich weder diese Form von Fasten vertretbar finde noch die Form von simplifizierter Psychosomatik, die sie anscheinend vertritt) eben mitgetroffen.

    Problematisches gibt es in „Mainstream“-Religionen genauso. Trotzdem wird kein_e evangelisch-lutherischer_e Christ_in, selbst wenn er_sie seinen_ihren Glauben offen und erkennbar lebt, mit Leuten von z.B. Universelles Leben in einen Topf geschmissen.

    Ich habe nun mal nicht immer die Gelegenheit, mich vom Lebenshilfe-Markt mit all seinen sehr problematischen Seiten zu distanzieren, und daß ich hier gerade so verstanden werden könnte, als nähme ich gesundheitsgefährdende Praktiken in Schutz, nur weil ich das gängige Esobashing aus der skeptischen Ecke nicht mehr hören kann, kekst mich gehörig an.

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