Neulich warf ich in einer Debatte um klischeehafte Göttinnenbilder (die meist nackt, weiß, jung, schlank und gängigen Schönheitsidealen voll entsprechend und sexualisiert dargestellt werden) die Begriffe Geschlechterbinarität und Heteronormativität in den Raum und wurde prompt gefragt, was das denn sei. Ich habe mir ein bißchen Zeit ausgebeten, weil ich diese Begriffe nicht in einem mal eben hingeworfenen Facebook-Kommentar erklären kann und weil ich das auch nicht immer von vorne machen mag.1
Es ist mir wichtig, zu betonen, daß keins dieser Denkmuster, die ich unten beschreibe, einer bösen Absicht entspringen müssen. Sie sind inhärenter Bestandteil unserer Kultur und so tief darin verwurzelt, daß sie oft das unhinterfragte Fundament des Denkens über Geschlechter bilden.
Das binäre Verständnis von Geschlecht
Ich fange an mit Geschlechterbinarität.
Binär ist ein System, in dem es nur zwei genau voneinander unterschiedene Zustände gibt. Im binären Zahlensystem etwa werden alle Zahlen durch 1 und 0 ausgedrückt. In einem binären System gibt es kein Dazwischen und kein Vielleicht. Ein binäres System unterscheidet nur zwischen An oder Aus, Schwarz oder Weiß, vorhanden oder nicht vorhanden.
Bezogen auf Geschlecht heißt das: Ein binäres Verständnis von Geschlecht nimmt an, daß es nur und genau zwei Geschlechter gibt und daß diese scharf abgrenzbar sind. Es stößt dort an Grenzen, wo Menschen nicht klar in dieses Entweder-Oder eingeordnet werden können oder wollen. Ein prominentes Beispiel aus der Heidenszene ist die immer wieder umstrittene Frage, ob Transfrauen bei Ritualen, die nur für Frauen gedacht sind, dabei sein dürfen, und wenn ja, ab welchem „Fortschritt“ des Übergangs.
Besonders problematisch finde ich dieses Denken, wenn Geschlecht zugleich zum primären Kriterium wird, nach dem Menschen unterschieden und eingeteilt werden.
Heteronormativität
Heteronormativität finde ich schwieriger zu erklären.
Heteronormativität erschöpft sich nicht in der Annahme, heterosexuell zu sein, sei normal und alles andere nicht. Das ist eine ihrer Erscheinungsformen, aber auch Menschen, die Homo- oder Bisexualität für normal halten, können heteronormative Denkmuster vertreten und heteronormativ handeln.
Heteronormativität kann sich darin manifestieren, daß ich jemand neues kennenlerne und erst einmal davon ausgehe, er/sie sei hetero, bis etwas anderes gesagt wird. Heteronormativität kann sich darin zeigen, daß ein_e Seminarleitende_r oder Autor_in annimmt, alle Frauen machten dieselben Erfahrungen wie heterosexuelle Frauen. Heteronormativität manifestiert sich in der Unterstellung, auch in homosexuellen Beziehungen müsse eine Person den „männlichen“ und eine den „weiblichen” Part übernehmen. Heteronormativität basiert auf einem Verständnis von Geschlecht, das davon ausgeht, alle Körper seien entweder eindeutig männlich oder weiblich; mit einem Körper, der als weiblich identifiziert wird, sei auch eine weibliche Identität verbunden und mit einer weiblichen Identität ein erotisches Begehren, das sich auf männliche Körper richtet.
Heteronormativität beruft sich gerne auf Statistik, mit dem Argument, das, was auf die Mehrheit zutreffe, solle man auch erst einmal voraussetzen dürfen, bis das Gegenüber sich als einer der Sonderfälle zu erkennen gebe.
Heteronormativität offenbart sich in Vorstellungen wie „jeder Mensch hat männliche und weibliche Anteile“ und der Vorstellung, „männlich“ und „weiblich“ verhielten sich komplementär zueinander. Sie kann sich in der Annahme zeigen, daß eine Gruppe, die nur aus als weiblich wahrgenommenen (oder nur aus männlich wahrgenommenen) Personen besteht, irgendwie unter Einseitigkeit leiden müsse. Heteronormativität steckt in der Annahme, Lesben seien „irgendwie männlicher“ als heterasexuelle Frauen und Schwule seien „irgendwie weiblicher“ als Hetero-Männer. Heteronormativität ist immer dann am Werk, wenn heterosexuelle Lebenswirklichkeit – zum Beispiel bei der Partnersuche, zum Beispiel im Zusammenleben von Paaren, zum Beispiel, wenn es darum geht, eine Familie zu gründen – als universell gültiger Goldstandard angesehen wird und die Lebensrealität von nicht-heterosexuellen Menschen als Abweichung, als unwesentliche Ausnahme angesehen wird.
Heteronormativität ist mir heidnisch-hexischen Zusammenhängen (unter anderem, die Liste ist nicht vollständig) in folgenden Gestalten begegnet:
- Jungfrau, Mutter und Alte – eine Triade, die sich an der körperlichen Reproduktionsfähigkeit einer Frau festmacht (die Jungfrau als Noch-Nicht-Menstruierende, die Mutter als, naja, Mutter eben, und die Alte als Nicht-Mehr-Menstruierende). Die Metaphorik, mit der da vor allem die Mutter beschrieben wird, ist für mein Empfinden sehr festgemacht an physischer Fruchtbarkeit. Dieses Bild hat die Tendenz, allen Frauen zu unterstellen, daß körperliche Fruchtbarkeit und in dieser mitgedacht meistens Heterosexualität eine Rolle in ihrem Leben spielt.
- Die Annahme, daß Rituale, die auf heterosexuellen Bildlichkeiten basieren, universell seien und für alle taugen, während Homosexuelle doch bitte Rituale mit homosexuellen Bildlichkeiten unter sich feiern sollten.2
- Die Frage: „Sag mal, Du als Lesbe, wie hältst Du es eigentlich mit dem Gott?“ Diese Frage ist aus folgenden Gründen interessant:
- unterstellt sie mir ein Wicca-geprägtes Paradigma – nein, nicht alle Heid_innen fassen die männlichen Gottheiten, mit denen sie zu tun haben, als „der Gott“ zusammen.
- unterstellt sie, meine sexuelle Orientierung führe dazu, ich hätte ein anderes Verhältnis zu männlichen Gottheiten; in dem Fall hegte die Fragestellerin die (irregeleitete) Ansicht, ich würde mich ausschließlich mit weiblichen Gottheiten befassen.
Ich wies die Person, die mir diese Frage stellte, dann erst einmal auf meinen „harten“ Polytheismus hin3 und darauf, daß männliche Gottheiten für mich durchaus eine Rolle spielen – allerdings eine andere als in der simplifizierten Göttin-Gott-Dyade. Diese andere Rolle hat für mich aber nicht nur mit meiner sexuellen Orientierung zu tun, sondern auch mit einem anderen Verständnis von Gottheiten und einer anderen Beziehung zu Gottheiten.
- Die verbreitete Vorstellung von „Die Göttin und ihr Gefährte“ oder „Göttin und Gott“, wobei folgendes angenommen wird: Männlichkeit und Weiblichkeit verhalten sich komplementär und sind ohne einander unvollständig; Geschlecht ist die primäre Teilung; „Göttin“ und „Gott“ werden jeweils unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben, die bemerkenswert gut zu traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit passen; sie werden als Liebespaar beschrieben; der heterosexuelle Liebesakt zwischen den beiden (meist nur symbolisch zelebriert) ist zentrales Element; er führt zur Schwangerschaft der Göttin und zur (Wieder)Geburt des Gottes; und so, wie ich Anschauungen kennengelernt habe, die um diese Erzählung zentriert sind, ist für Erzählungen jenseits der Göttin-Gott-Liebesgeschichte, für Rituale, die andere Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit feiern wollen – oder gar Themen, die nichts mit Geschlecht zu tun haben, auf nicht-sexualisierte Weise begehen wollen – meistens kein Platz.
- Menschliche Fortpflanzung wird als Ding von zentraler Wichtigkeit angesehen, einerseits in einem spirituell aufgeladenen Verständnis von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft (etwas, zu dem ich nichts sagen will, es ist einfach nicht Teil meines Lebens), andererseits in einem Reflex, die Wichtigkeit von heterosexuellem Geschlechtsverkehr als „naturgegebene“ Möglichkeit, Schwangerschaft und damit den Fortbestand der menschlichen Art herbeizuführen, zu betonen. Was, wenn mich das einfach nicht interessiert? Ein nennenswerter Teil der Frauen*, die Sex mit Männern* haben, will hierzulande die meiste Zeit nicht schwanger werden.
Kimeron J. Hardin schlägt in seinem Arbeitsbuch über Selbstwertgefühl für Schwule und Lesben auch den Ausdruck „Heterozentrismus“ vor. Gemeint ist damit eine Geisteshaltung, die schlicht blind für nicht-heterosexuelles Leben ist. Manchmal finde ich diesen Begriff passend, denn er beschreibt recht gut den Kern des Problems: Nicht-heterosexuelle Lebenswirklichkeiten sind für Heteros oft einfach ein blinder Fleck.
Trotzdem ist der Begriff der Heteronormativität für mich damit nicht deckungsgleich. „Heteronormativität“ ist für mich ungleich tiefgreifender; Heterozentrismus ist nur ein Teilaspekt davon.
Wie da herauskommen?
Es gibt nicht den einen Weg, Geschlechterbinarität und heteronormative Muster abzubauen. Für viele sind sie liebgewonnene Grundlage und ich habe oft genug Menschen aufgebracht reagieren sehen, wenn eins herging und mal eben einen zentralen Teil ihres Weltbilds umschmiß. Ja, das muß wehtun.
Heteronormative Muster und binäres Geschlechtsverständnis tun allerdings auch Leuten weh. Sie tun Menschen, die immer wieder in diese Schubladen gesteckt werden sollen, Gewalt an. Sie produzieren Leid, Entfremdung und Unwillkommen-Sein.
Entfremdung, Ausgrenzung und Unwillkommen-Sein hören nicht auf, weh zu tun. Mit den Grundlagen des eigenen Weltbilds kritisch umzugehen und auch mal Grundannahmen zu hinterfragen, das hingegen läßt sich üben und ist vielleicht zuerst befremdlich, aber es kann zu einer Bereicherung werden und führt gerne zu Erkenntnis.
- Die Erfahrung sagt zwar, daß ich oft genug mit dem Erklären von Begriffen und Zusammenhängen von Ask und Embla neu anfange, aber ich kann ja wenigstens mal einem Teil dessen entgegenwirken, indem ich so einen Blogpost schreibe, auf den ich verweisen kann. ↩
- Für mich hieß das dann lange Zeit: gar nicht, denn ich kannte lange keine Homosexuellen, die mit mir Rituale hätten feiern wollen – was nicht heißt, daß es sie nicht gab, aber daß es sie gibt, heißt ja noch lange nicht, daß sie auch können und wollen. Es kann z.B. sein, daß schlicht die Chemie nicht stimmt, daß grundlegende Vorstellungen unvereinbar sind, oder daß die queeren Heiden, die ich kennenlernte, bereits in anderen nicht-queeren Ritualkreisen gebunden waren. ↩
- das bedeutet: den Satz „irgendwie sind ja alle Gött_innen eins“ erkenne ich höchstens auf einer sehr abstrakten Ebene an, aber auf der Ebene der praktizierten Verehrung lege ich Wert darauf, meine Gottheiten als viele verschiedene Persönlichkeiten anzusprechen ↩