Wenn ich früher das Thema „heidnische Musik“ angeschnitten habe, kamen oft als eine der ersten Antworten Empfehlungen zu bestimmten Künstler_innen/Alben zum Anhören. Die meiste Musik, die ich da empfohlen bekam, war von Bands, die ein mehr oder weniger heidnisches Image haben, sich mit „irgendwie heidnischen“ Inhalten beschäftigen und/oder sich als heidnisch identifizieren.
Daran dachte ich, als ich vor ein paar Tagen diesen Artikel (auf englisch) über heidnische Veranstaltungen las, und ich hatte Lust, zu reflektieren, wie denn das inzwischen mit mir und der heidnischen Musik ist.
Ich habe ja selten das Bedürfnis, „heidnische Musik“ zu konsumieren. Ohnehin transportiert die meiste dieser „heidnischen Musik“ einen ganz anderen Begriff von Heidentum als den meinen. In meinem Liedermachen spielt Paganes durchaus auch eine Rolle, ich improvisiere durchaus schon mal über Runen oder will Hymnisches für/über bestimmte Göttinnen_Götter schreiben. Für mich ist jedoch weit interessanter: wie beziehe ich aktives Musikmachen ins Ritual ein?
Für mich hat sich eine interessante Tendenz ergeben: Bei Veranstaltungen wie FAWM oder 50/90 schreibe ich öfter mal mehrstimmige Elemente-Chants, wenn ich gerade schnell mal einen Song schreiben will, aber nicht weiß, was. Und das, obwohl ich sonst nicht so die große Freundin von Chants bin (dazu siehe unten) und mein Ritual-Paradigma sich von dem klassischen des magischen Kreises mit Anrufungen von Elementen und Himmelsrichtungen gelöst hat. Einer dieser Chants wurde auch schon einmal in einem Ritual eingesetzt.
Heidnische (Ritual)Musik = Chants?
Das ist für mich eine Frage, auf die ich noch keine Antwort habe. Nur wenige heidnische Leute, die ich kenne, haben Lust, in Vorbereitung auf ein Ritual richtig Lieder, möglicherweise mehrstimmige, zu lernen, oder überhaupt großartigen Aufwand ins Lieder-Lernen zu stecken. Viele wollen Lieder, die nach 2,3mal hören einfach mitzusingen sind. Einfache Chants sind da theoretisch ideal. (Nicht alle Chants sind einfach, ich kenne auch ein paar, die rhythmisch ganz schön vertrackt sind.)
Für mich eben nur theoretisch.
Einfache Tonfolgen sind für mich schon anderweitig besetzt – nämlich durch jahrzehntelanges Üben als klassische Sängerin mit „Stimmübungen“. Das heißt, mein Bewußtsein will dann auf Aufmerksamkeit für meine Gesangstechnik schalten und nicht auf „magisch arbeitstaugliche Trance“. Für mich wird es schnell anstrengend, wenn ich lange in einer sehr begrenzten und für mich tiefen Stimmlage singe, und das hält mich auch sehr effektiv in der „alltäglichen Wirklichkeit“. Irgendwann habe ich mich damit abgefunden, dann halt „Bodenpersonal“ zu sein, mit meiner Stimme ein Fundament zu sein, Melodie mitzuhalten, damit andere „abheben“ können. Chants als Tranceinduktion funktionieren für mich nur mit einer bestimmten Art von Chanting (dazu weiter unten).
Auf eine weitere Sache, auf die beim Singen zu mehreren achtzugeben ist, stieß ich bei zwei Frauen-Spiri-Camps: verschiedene Stimmlagen. Was für die eine eine sehr bequeme Stimmlage ist, ist anderen zu hoch oder zu tief. Die theoretische Lösung: Mehrstimmigkeit. Ob die tatsächlich praktikabel ist, hängt davon ab, wie viel sich die Mitsingenden sängerisch zutrauen (das Sich-Zutrauen ist meistens die größte Hürde, wenn’s ums Singen geht), wie groß die Gruppe ist (erfahrungsgemäß: je größer, desto besser), ob es genug gesanglich sichere Menschen gibt, die weniger „mehrstimmigkeits-sichere“ Leute, die eine zusätzliche Stimme schnell „rausbringt“, „mitziehen“ können und ob überhaupt Sachen vorhanden sind, die sich gut mehrstimmig singen lassen, und sei’s auch nur eine Stimme in Terzparallelen obendrüber.
(Mehrstimmig singen macht mir übrigens erst dann so richtig Spaß, wenn ich die eigene nicht mehr gegen die andere(n) Stimme(n) an halten muß, also quasi gegen die anderen ansinge, sondern mich am Zusammenklang der Stimmen freuen und die Rolle der eigenen Stimme darin hören kann.)
Für mich persönlich wird Musik möglicherweise – Garantien gibt’s keine – zum mächtigen oder gar ekstatischen Erlebnis, wenn ich folgendes tun kann:
- Improvisation. Mit anderen zu improvisieren und keine Einschränkungen in Hinsicht auf Tonhöhe oder Lautstärke zu haben, nicht „schön“ und „richtig“ sein zu müssen, gestattet mir, „alle Schleusen aufzumachen“ und mich vollkommen auf Expressives einzulassen, das aus der Tiefe kommt. Oder aber: eine Improvisation, in der ich mich ganz bewußt darauf einlasse, was denn da meine Mit-Musizierenden machen; ein sehr achtsames, hellwaches, aufmerksames Zuhören steht dann im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit.
- Musik ganz bewußt als künstlerische Darbietung zu gestalten, mit viel Expressivität, die ich hineinlegen kann. Dafür muß ich mich hinreichend sicher fühlen in dem, was ich da tue – so sicher, daß ich mir keine Gedanken machen muß, welcher Griff als nächstes kommt oder wie denn jetzt der Text in der nächsten Zeile lautet.
- Chants – aber dann nicht einfach nur heruntergesungen, sondern mit der Erlaubnis, „wild“ zu werden, das „schön“- und „richtig“-Machen-Wollen vollkommen fallen zu lassen. Töne sind daneben, der Text ab und zu undeutlich oder auch mal nicht das, was im Buche stand? Egal, Hauptsache, die Energie und der Rhythmus sind stark.
Generell trägt es zur Magie des Musikmachens nicht nur im Ritual bei, wenn ich an „schön“ und „richtig“ keinen Gedanken verschwende, entweder, weil es sowieso nie eine Rolle gespielt hat (z.B. beim Improvisieren oder Chanten), oder weil ich so sicher bin, daß die von allein passieren können. Paradoxerweise lassen sich nämlich „schön“ und „richtig“ in der Musik nur begrenzt absichtlich herstellen. Ich kann instrumental- und gesangstechnische Sachen natürlich einüben (und tue das seit über 25 Jahren, sonst könnte ich heute nicht machen, was ich mache) und ich kann die Töne und den Text lernen, ich kann die Ausführung üben, bis sie technisch gut und leicht von der Hand geht.
Aber in der „Aufführung“, egal ob das ein Konzert ist oder ein Ritual, ist es hilfreich, dieses rein Technische, das absichtlich hergestellte zu großen Teilen beiseite zu lassen, um Platz zu machen für authentischen Ausdruck. Je besser das gelingt, je weniger das „Richtigmachenwollen“ im Weg steht, desto mehr kann die Musik schön werden und berühren.
Das mir bekannte Chantrepertoire – was mich nervt, warum ich selber welche schreibe und was ich mir wünsche
Ich kenne vergleichsweise wenige Chants auf deutsch. Das ist für mich weniger ein Problem, im Gegenteil, ich singe recht gern auf englisch – mit deutschen Texten dagegen bin ich unglaublich pingelig. Die müssen gut sein, dichterisch wie inhaltlich, damit ich mich nicht peinlich berührt fühle von dem, was ich da singe. Deshalb fällt es mir nach wie vor leichter, gerade heidnische Lieder auf englisch zu schreiben – da schreibe und singe ich wesentlich unbefangener. Es versteht halt nur nicht jede_r so gut englisch, insofern wäre ein Repertoire von schönen Chants und Liedern auf deutsch auch gut.
Tonalität
Es ist eine bekannte Klage, daß pagan chants so oft in moll stehen. Die Musikwissenschaftlerin sagt (Achtung, jetzt wird’s musiktheoretisch): Das ist oft eigentlich nicht mal ein Moll, das ich mit einer normalen Mollkadenz begleiten könnte, sondern eine pseudo-modale Tonalität, die nur einen kleinen Ausschnitt der Skala benutzt und keine charakteristischen Intervalle verwendet.
Was ich also in meinen Chants versuche und was ich mir wünsche, ist bei aller Einfachheit eine vielfältigere Melodik und Tonalität. Mehr Dur wagen!
Die Göttin, die Göttin und nochmal die Göttin, oder: Stereotype Texte
In vielen Chants, die mir so bekannt sind, geht es entweder um die Elemente – oder um die Göttin. Nicht, daß mit der Göttin was verkehrt ist, aber auch hier kann ich mich an wenige Chants erinnern, die nicht die üblichen verdächtigen Aspekte (Jungfrau, Mutter, Alte…) zelebrieren und/oder nicht noch den Gehörnten Gott dazustellen.
Was ich in Chant- und Lieder-Alternativen gern hätte: Würdigung für spezifische Gottheiten, vor allem für die bisher zu wenig besungenen – in meinem Pantheon also: wo sind die Lieder für Sif, Frigg, Eir und Hel, für Freyr, Ullr und Tyr? Wo sind die Chants, die auch für queere Ritualgruppen taugen? Chants für Ritualanfang und -ende, die nicht an das Wicca-Ritualparadigma gebunden sind?
Cultural appropriation
Es muß für mich auch beim Thema Chants angesprochen werden: Bevor ich mich ziemlich aus der heidnischen Szene und besonders aus der Frauenspiri-Ecke zurückzog, bin ich dem immer wieder begegnet, daß ohne mit der Wimper zu zucken Native American-Lieder und indische Mantren gesungen wurden, ohne überhaupt zu wissen – oder bestenfalls ganz oberflächlich zu wissen – , aus welchem Kontext diese Lieder stammen und welche Funktion sie in ihren Ursprungskulturen haben.
Mich einfach an anderen Kulturen bedienen geht auch in puncto Liedgut nicht. Nicht, wenn ich mit dieser Kultur ansonsten nichts zu schaffen habe. Es gibt für mich einen Unterschied zwischen Kulturaustausch (das wäre, btw., wenn ich z.B. Lieder direkt von Angehörigen einer anderen Kultur lerne) und dreistem Raub. Wenn meine (Sub)Kultur nichts Brauchbares für einen bestimmten Zweck anbietet, dann sehe ich mich aufgefordert, selbst was zu schaffen.
Ich mag übrigens auch umgetextete christliche Lieder nicht, aber das ist vielleicht mein subjektives Ding und auch das Ding, daß ich „Sittenchristliches“, also strukturell noch christlich Geprägtes, auch wenn ein anderes Etikett draufgeklebt wurde, nicht weiter bekräftigen mag. Ich mag nichts, was nach der christlichen Frömmigkeit schmeckt, die ich im Reliunterricht und in Schulgottesdiensten mitbekam – und wenn da zehnmal Textstellen ausgetauscht wurden.
In diesem Sinne: Es gibt eine Menge zu tun – das sind meine Wünsche an heidnisches Liedgut. Wie sieht’s mit Euren aus?