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Spirituelle Morgenroutine einer Nachteule

In meinem letzten Post habe ich meine Morgenpraxis ja schon kurz erwähnt. Hier will ich noch ein wenig genauer auf das Was, Wie und Warum eingehen.

„Morgenroutine“ klingt nach Frühaufstehen, Produktivität, ordentlichen und disziplinierten Menschen. Keins davon ist sonderlich zutreffend für mich, obwohl ich inzwischen meine Morgenpraxis derart als Notwendigkeit empfinde, dass ich sie durchaus mit einberechne, wenn es darum geht, wann ich aufstehen muss. Ich bin allerdings eine lebenslange, unveränderliche, bekennende Nachteule, und ich brauche morgens meine Zeit, um in Gang zu kommen.

Meine Morgenpraxis ist inzwischen ein schöner und hilfreicher Teil dieses “in Gang Kommens”. Bevor ich sie hatte, bin ich eher in den Tag hineingestolpert (begleitet von Twitter und Co., während ich mir Kaffee machte, frühstückte und versuchte, mich dazu zu überreden, dem Tag ins Gesicht zu schauen). Ich verbringe zwar morgens immer noch oft eine halbe Stunde damit, durchs Internet zu scrollen, und ich fühle mich morgens immer noch zerstreut und unmotiviert – die zwanzig Minuten, die ich nun morgens auf meiner Yogamatte und vor meinem Altar verbringe, helfen mir jedoch, den Tag absichtsvoller anzugehen, nicht nur auf das zu reagieren, was mir meine Todo-Liste vor den Bug wirft, sondern zumindest kurz die Frage zu stellen: „Was will *ich* denn heute?“

Wenn ich mich bei diversen Online-Buchhandels-Seiten in den Selbstoptimierungs-Bereich verirre, dann gewinne ich manchmal auch den Eindruck, eine legitime Morgenroutine wäre nur, wenn ich vor dem Frühstück schon zehn Kilometer laufe, einen halben Roman schreibe und eine Stunde meditiere.

Tatsächlich ist meine Morgenroutine wesentlich bescheidener: Ich mache etwa zehn Minuten Yoga-Asanas – ein paar Sonnengrüße, ein paar Stretches, vielleicht ein paar Atemübungen. Morgens ist bei mir nicht die Zeit für anspruchsvolle Fitness-Übungen; mir geht es bei diesem körperlichen Teil meiner Praxis nur darum, die Schwere und Steifheit zu mildern, die ich morgens fühle. Wenn es das Wetter erlaubt, mache ich diesen Teil auf meinem Balkon.

Der zweite Teil meiner Morgenpraxis ist Meditation, in der Regel etwa zehn Minuten, wenn ich Lust (und Zeit) habe, auch manchmal länger. Auch hier geht es nicht um Ambitioniertes, sondern einfach nur darum, mich für den Tag zu zentrieren und mit sozusagen allen Teilen von mir Kontakt aufzunehmen. Besonders mit den Teilen, die ich sonst im Alltag unter den Teppich kehre.

Das dritte Element ist eine kurze Orakelsession, derzeit ziehe ich drei Tarotkarten. Das verstehe ich nicht als Voraussage, sondern als Hinweis auf Themen, die heute wichtig sein könnten.

Und schließlich ehre ich Freyja und die Gottheit des Wochentages mit einem kurzen, meistens improvisierten Gebet.

Warum eigentlich morgens? Es hat sich für mich einfach herausgestellt, dass es noch viel schwieriger ist, abends Zeit für diese Praxis zu finden. So zombie-technisch ich mich morgens fühle, abends kann ich mich oft zu noch weniger aufraffen. Was mir wichtig ist, hat bessere Chancen, getan zu werden, wenn ich es früher am Tag mache – das hat sich für mich in den letzten Jahren herauskristallisiert.

Es hat ein Element von Widerstand, morgens etwas Unpraktisches zu tun, mir Zeit für mich und meine Großen zu nehmen, mich nicht gleich ins Alltagsgeschäft zu stürzen. Denn nach der Devise „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ tendiere ich dazu, Nicht-Lebensnotwendiges, Nicht-Arbeitsförmiges auf den Abend zu verschieben, wo es sich dann mit tausend anderen Dingen, die ich noch tun wollte, aber zu denen ich nie komme, um meine Aufmerksamkeit schlägt. Mich gleich morgens mit dem zu verbinden, was meiner tief internalisierten kapitalistischen Arbeitsethik ein Schnippchen schlägt, erweist sich für mich als segensreich – es ist kein Allheilmittel, aber es macht es doch wahrscheinlicher, dass ich auch im Lauf des Tages mal innehalte und frage: „Will *ich* das eigentlich?“

2 Comments

  1. irka 14. August 2020

    Dieser letzte Satz ist Gold! Er beinhaltet so eine Weisheit, dass es schmerzt. <3

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